
Die Mitgliedschaft in diesen Arbeitsgruppen galt als unvermeidlich. Sie war gleichzeitig Kontrollapparat und scheinbarer Schutzraum, ein Ort der Disziplinierung und der sozialen Zugehörigkeit. Zwischen Zwang und Gemeinschaft entfalteten diese Kollektive eine komplexe Eigendynamik, die weit über ihre ursprüngliche politische Funktion hinausging.
Mit dem politischen Umbruch 1989/90 vollzog sich eine bemerkenswerte Erinnerungstransformation. Was zunächst als repressives System galt, wurde in der Retrospektive vieler ehemaliger Mitglieder zu einem Raum des sozialen Zusammenhalts. Der repressive Charakter trat in den Hintergrund, während Erinnerungen an Kollegialität und gegenseitige Unterstützung an Bedeutung gewannen.
Die Kulturanthropologin Merve Lühr hat diesen Deutungswandel wissenschaftlich aufgearbeitet. Ihre Studie basiert auf einer innovativen Forschungsmethode: Sie verknüpft Brigadetagebücher, die ursprünglich als Gruppenchroniken dienten, mit Interviews ehemaliger Betriebsangehöriger. Aus diesen unterschiedlichen Quellen webt sie eine dichte Beschreibung der Kollektivdynamiken im gesellschaftlichen Transformationsprozess.
Im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig präsentiert sie Einblicke in die vielfältigen Alltagserfahrungen verschiedener Kollektive - vor und nach 1989. Ihre Arbeit ist mehr als eine historische Rekonstruktion. Sie ist eine sensible Erkundung menschlicher Erinnerungspraktiken, die zeigt, wie Menschen komplexe politische Umbrüche individuell und kollektiv verarbeiten.
Die Studie lädt ein, die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Zwang und Gemeinschaft, zwischen staatlicher Kontrolle und menschlicher Solidarität neu zu betrachten. Sie offenbart die Vielschichtigkeit sozialer Erfahrungen in einem System, das Menschen gleichzeitig vereinnahmte und zusammenbrachte.
Vortrag und Gespräch mit Dr. Merve Lühr (Kulturanthropologin und Historikerin)
Moderation: Dr. Uta Bretschneider (Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig)
Wann: 23. September 2025 - 19 Uhr
Wo: Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Grimmaische Straße 6, 04109 Leipzig
Eintritt: frei
Alle weiteren Informationen zur Veranstaltung und Anmeldung finden Sie hier.